Missbrauchsfälle im Kinderheim Wilhelminenburg waren KEINE Einzelfälle

Die Kommission um Richterin Barbara Helige, die die Vorfälle im einstigen Wiener Kinderheim im Schloss Wilhelminenberg untersucht, hat am Mittwoch ihren Endbericht vorgelegt. Dieser bestätigt, dass Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte hinweg physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren.
Die Kommission unter dem Vorsitz von Helige kam unter anderem zu dem Schluss, dass “massiver sexueller Missbrauch” stattgefunden hat.

Wilhelminenberg: Stadt Wien wusste Bescheid

Den Verantwortlichen der Stadt waren die schwerwiegenden Missstände im Kinderheim Wilhelminenberg laut Bericht “durchwegs bekannt”. Der Heimleitung sei aber trotzdem nicht Einhalt geboten worden. Auch Täter von außen sollen im Heim Übergriffe getätigt haben. Die Einrichtung wurde 1977 geschlossen. Das Schloss Wilhelminenberg beherbergt inzwischen ein Hotel.

Bericht wird Staatsanwaltschaft übergeben

Der Bericht soll nun an der Staatsanwaltschaft und den Ermittlungsbehörden übergeben werden, forderte die Vorsitzende Barbara Helige bei der Präsentation des 344-seitigen Werkes. Die Justiz müsse dann klären, inwieweit die Täter noch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Dabei stellte die Richterin auch klar: “So etwas darf nie wieder passieren.”

Die Kommission hat im Herbst 2011 ihre Arbeit aufgenommen. Sie hatte von der Stadt den Auftrag bekommen, jene Vorwürfe zu untersuchen, wonach es im ehemaligen Kinderheim Wilhelminenberg von 1948 bis 1977 zu organisierter Vergewaltigung und Kinderprostitution sowie zu anderen Formen von physischer und psychischer Gewalt gekommen sei. Zudem wollte das Gremium die Frage der Verantwortung klären.

So recherchierte die Kommission

Im Zuge der Recherche wurden u.a. in Akten der MA 11 (Jugendamt) und MA 2 (Personal) Einsicht genommen, sowie 217 Interviews geführt, davon 140 mit damaligen Heimkindern und 28 mit Erziehern. Diese Gespräche waren die wichtigste Basis, denn: Nach Schließung des Heimes 1977 seien alle Akten vernichtet worden. “Das ist ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang”, so die Psychiaterin und Kommissionsmitglied Gabriele Wörgötter. Erzählungen zufolge seien sogar Lkw vorgefahren, um die Papiere wegzuschaffen. Wer den Auftrag zur Aktenvernichtung gab, konnte nicht herausgefunden werden.

Bei der Präsentation der Expertise fasste Helige die Ergebnisse so zusammen: “Die Kommission bestätigt den Einsatz massiver physischer und psychischer Gewalt über Jahrzehnte.” Das Ausmaß ging dabei weit über das damals noch gebräuchliche Züchtigungsrecht hinaus und verstieß auch gegen die Heimverordnung von 1956, in der das Schlagen von Kindern in Heimen verboten war. “Es war untersagt. Es war diese Gewalt Unrecht”, betonte sie.

Missbrauch musste geklärt werden

Ein wichtiger Punkt war auch, dass die Kommission klären sollte, ob die Kinder sexuell missbraucht worden sind. Das bestätigte Helige: “Die Erzählungen gehen in erster Linie in die Richtung , dass Täter von außen eingedrungen sind oder auch mithilfe von Erzieherinnen Zugang zu Schlafsälen gefunden haben.”

Nicht erhärtet werden konnte hingegen der Vorwurf, es hätten Massenvergewaltigungen in den Schlafsälen stattgefunden.

Auch habe es keine Hinweise gegeben, aus denen verlässlich geschlossen werden konnte, dass es organisierte Kinderprostitution gegeben hätte.

Was die Täter betrifft: Aufgrund der eingeschränkten Datenlage und teils unkonkreten Erinnerungen sei die zweifelsfreie Ermittlung der Identität von Personen, die den Missbrauch begehen hätten können, kaum möglich. Nur teilweise sei es gelungen, Personen zu identifizieren. Was den Missbrauch durch heimfremde Personen anbelangt: “Diese bleiben leider im Dunkeln.” Eine Nachforschung sei praktisch unmöglich gewesen. Bei Erzieherinnen, die der Beihilfe beschuldigt werden und die ausgeforscht werden konnten, könnte eine Beitragstäterschaft vorliegen. Hier sei die Strafverfolgungsbehörde aufgerufen, Untersuchungen anzustellen, so Helige.

Das wusste die Stadt Wien

Die Kommissionsvorsitzende stellte auch klar, dass die damalige Stadtverwaltung von den Vorkommnissen gewusst hatte. Ab Mitte der 1960er-Jahre sei dies deutlich dokumentiert. Es habe massive Beschwerden gegeben, von Eltern, Jugendämtern und auch Erziehern:

“Und es ist nichts passiert.”

Das Ausmaß sei vonseiten der Direktion immer in Abrede gestellt worden: “Obwohl man darüber hinaus das dann schon gewusst hat, wurde die Heimleiterin auch in den 1970er-Jahren nicht zur Verantwortung gezogen.”

Weder die Behörden noch die Politik hätten damals auf die bekannten Missstände reagiert. Selbst in den 1970er-Jahren seien “noch reihenweise Mädchen entwichen”. Helige hob aber auch hervor, dass es damals auch in der Öffentlichkeit kaum Interesse für die Situation der Heimkinder gab.

Heim wurde gründlich untersucht

“Wir haben, glaube ich, das Heim Wilhelminenberg nach Strich und Faden was heute möglich ist, untersucht”, betonte Helige abschließend. Die Kommission forderte die Stadt auf, den Bericht an die Staatsanwaltschaft zu übermitteln, was Jugendstadtrat Christian Oxonitsch (S) heute bereits zusagte. Die Expertise wurde anonymisiert verfasst, es gibt aber eine Liste mit jenen Personen, gegen die es Vorwürfe erhoben wurden. Dabei handelt es sich um 20 bis 30 Namen, so Helige.

Es seien jedoch keine einzelnen Strafanzeigen erstellt worden.

Zudem forderte die Kommission die Stadt auf, sie öffentlich für das entstandene Leid bei den Betroffenen zu entschuldigen. Der anwesende Jugendstadtrat Oxonitsch betonte: “Wir haben immer gesagt, als Stadt Wien übernehmen wir die Verantwortung.” Er verwies auch auf die bereits erfolgte Entschuldigung von Bürgermeister Michael Häupl (S).

Das ehemalige Kinderheim am Wilhelminenberg sei ein besonderes Beispiel, aber kein Einzelfall gewesen: “Der Wilhelminenberg war hier Pars pro Toto.”

Man könne Hilfestellungen geben, aber das erlittene Leid nicht umgeschehen machen. Die Arbeit der Wilhelminenberg-Kommission ist mit dem Endbericht abgeschlossen. Oxonitsch betonte aber, dass die Archive für weitere Forschungen offen stünden.

FPÖ und ÖVP fühlen sich bestätigt

Die Wiener Oppositionsparteien sahen sich unterdessen in ihrem Vorwurf bestätigt, dass die grausamen Vorfälle im Kinderheim durch die Verantwortlichen vertuscht worden sind. “Wir konnten erst gar nicht glauben, dass diese schwersten Verbrechen der Nachkriegszeit von oben gedeckt wurden”, sagte FPÖ-Bundes- und Landesparteiobmann Heinz-Christian Strache. Die Tatsache, dass heute die Namen der damals politisch Verantwortlichen nicht genannt worden seien – es betreffe die Amtszeiten der SPÖ-Stadträtinnen Maria Jacobi und Gertrude Fröhlich-Sandner -, zeige, dass sich die Sozialdemokraten offenbar mit ihrer Vergangenheitsbewältigung immer noch schwertäten, so ÖVP-Landesparteiobmann Manfred Juraczka.

Bisher Entschädigungen für 1.200 Missbrauchsopfer

Die Stadt Wien hat bisher rund 1.200 Personen, die Opfer von Gewalt und Missbrauch in städtischen Heimen oder Privateinrichtungen unter städtischer Aufsichtspflicht wurden, finanziell entschädigt.

Dafür wurden 21,2 Millionen Euro aufgewandt, teilte ein Sprecher von Jugendstadtrat Christian Oxonitsch (S) mit. Für die Abwicklung der Hilfeleistungen ist der Verein “Weißer Ring” zuständig. Dort melden sich noch immer Opfer.

Insgesamt haben sich bisher 1.713 Personen an den “Weißen Ring” gewandt. Neben monetären Zuwendungen gibt es für die Betroffenen auch psychologische Hilfe und Therapien. Jenes Gremium, dass über Leistungen und Zahlungen entscheidet, hat in bisher 30 Sitzungen 1.542 Fälle einzeln untersucht, berichtete eine Sprecherin des “Weißen Rings” im APA-Gespräch.

Diese Unterstützung erhielten Opfer

892 Personen wurde dabei Unterstützung in Form von psychologische Hilfe und Therapien zugesprochen. Dafür hat der Verein 60.015 Einheiten Psychotherapie für rund 4,8 Millionen Euro genehmigt. Insgesamt hat die Stadt 31,5 Millionen Euro für die Opferentschädigung bereitgestellt.

Bei den Betroffenen handelt es sich mit rund 61 Prozent vorwiegend um Männer. Was die Altersverteilung betrifft: Fast 38 Prozent seien zwischen 1950 und 1959 geboren worden, 31 Prozent zwischen 1960 und 1969.

In allen Fällen ging es um physische und psychische Gewalt, in rund 48 Prozent – also in fast der Hälfte – auch um sexualisierte Gewalt.

Weißer Ring: Dort gab es Gewalt

Der “Weiße Ring” verfügt auch über eine Auswertung, welche Einrichtungen von den Betroffenen besonders häufig genannt wurden:

        • Das Kinderheim am Wilhelminenberg kam auf 319 Missbrauchsfälle

        • Das Kinderheim in Eggenburg auf 257 Missbrauchsfälle und

        • Das Kinderheim auf der Hohen Warte auf 202 Missbrauchsfälle.

        • die Unterbringung bei Pflegeeltern auf 159 Missbrauchsfälle.

Viele Betroffene lebten übrigens nicht nur in einem Heim, sondern sind öfter gesiedelt. Im Schnitt wurden 4,2 “Unterbringungen” pro Person berechnet.

Vorfälle liegen teils lange zurück

Die Vorfälle, die aufgearbeitet werden, liegen schon lange zurück. Seit der Heimreform im Jahr 2000 gibt es in der Bundeshauptstadt keine Großheime mehr. Die Kinder werden nunmehr in Wohngemeinschaften untergebracht. Zudem wurden auch Krisenzentren geschaffen. Dort werden Kinder und Jugendliche laut Jugendamt vorläufig untergebracht, wenn der Schutz in der Familie nicht mehr gewährleistet werden kann. Überdies erhalten heutzutage auch die Pflegeeltern eine Ausbildung.

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